Canada-Day 2009

Organisatoren
Professur Geschichte Nordamerikas, Ruhr-Universität Bochum
Ort
Bochum
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.07.2009 -
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Von
Lucie-Patrizia Arndt, Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum; Jens Wegener, Europäisches Hochschulinstitut, Florenz

Die politische und wirtschaftliche Dominanz der Vereinigten Staaten von Amerika droht bisweilen in der Nordamerikaforschung alle Blicke auf die USA zu ziehen und Kanada in den Hintergrund zu drängen. Dabei präsentiert sich der nördliche Nachbar auch aufgrund seiner multiethnischen Geschichte zwischen einheimischer Bevölkerung und britischer sowie französischer Kolonisation als interessanter und komplexer Forschungsgegenstand. Die von der Professur Geschichte Nordamerikas der Ruhr-Universität Bochum unter dem Titel „Das andere Amerika“ ausgerichtete Tagung stellte sich diesem Thema aus interdisziplinärer, insbesondere geschichts- und politikwissenschaftlicher Perspektive. In seinen einleitenden Worten skizzierte MICHAEL WALA (Bochum) den Gegenstand der Tagung mit der Frage nach der Spezifität kanadischer Identität, die sich auch gerade in Abgrenzung vom südlichen Nachbarn konstituiert. Die Konzeption der Tagung zielte darauf ab, einen Überblick über die historische Kanadaforschung in Deutschland zu geben und Perspektiven für die Weiterentwicklung der Disziplin zu eröffnen.

Zum Auftakt der Tagung stellte WOLFGANG HELBICH (Bochum) einige Ergebnisse seiner Forschung zur kanadischen Sprachenpolitik und zu Fragen der Diskriminierung von Sprachgruppen. Eine Untersuchung aller vor kanadischen Gerichten verhandelter Todesurteilsprozesse ergab, dass im Prozessverlauf aufgrund des Einsatzes bilingualer Richter und sprachlich gemischter Jurys und Anklagevertretungen keine Diskriminierung zu konstatieren ist. Eine Diskrepanz ergab sich jedoch bei der Vollstreckung der Urteile: Bei Frankokanadiern kam es deutlich häufiger zur Hinrichtung als bei englischsprachigen Verurteilten. Am Fall der Stadt Waterloo, Québec, wurden anschließend die Chancen einer Erforschung von Gruppenidentitäten mittels Mikrostudien vorgestellt, etwa durch Analyse franko- und anglokanadischer Kriegsfreiwilligenzahlen im Ersten Weltkrieg. Durch Vergleiche und Addition analoger Mikrostudien kann diese Forschung zu gesicherten Erkenntnissen führen, wenn dadurch die Auswirkungen statistischer Schwankungen aufgrund der geringen Ausgangszahlen minimiert werden.

Zwei Vorträge zur Geschichte der kanadischen Historiographie rückten anschließend die Wechselwirkung zwischen den unterschiedlichen Perspektiven der ethnischen Gruppen in den Blick. In seinem Beitrag verwies DIRK HOERDER (Tempe, AZ) auf die Problematik einer zunehmenden Zergliederung und Abschottung von Geschichte wenn Historiker und Historikerinnen aus einer Binnenperspektive heraus schreiben. Zudem wirken sich auch strukturelle Faktoren auf die Entwicklung der Geschichtsschreibung in Kanada aus: Die Schwäche der Geschichtswissenschaft und der Ausbildung von Historikern in Teilen der kanadischen Universitätslandschaft befördert die Abwanderung junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in die Vereinigten Staaten. UDO SAUTTER (Tübingen) ordnete diese Aspekte in die größeren Entwicklungslinien der kanadische Historiographie beginnend im 19. Jahrhundert ein. In der Gegenüberstellung anglo- und franko-kanadischer historischer Forschung zeigte sich deutlich, dass die englischsprachige Geschichtswissenschaft eine schnellere Professionalisierung und Institutionalisierung erfuhr. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde mit der Gründung des Institut d’histoire de l’Amérique française auch auf der französischsprachigen Seite das Fundament für den weiteren Entwicklungsprozess gelegt.

Die Bedeutung des rohstoffreichen Nordens für die kanadische Politik und die Konstruktion nationaler Identität war das Thema der zweiten Sektion. Der Vortrag von MARTIN THUNERT (Frankfurt) befasste sich mit den innen- und außenpolitischen Folgen des kanadischen Energiereichtums, der vor allem in den großen Ölsandvorkommen des Landes besteht. Aufgrund der stark unterschiedlichen Interessen der kanadischen Provinzen auf dem Energiesektor birgt die Energiepolitik gleichwohl innenpolitisches Konfliktpotential. Außenpolitisch gewinnt Kanada durch seine Energiereserven an Einfluss und schickt sich an eine neue Selbstidentifikation als „saubere Energiesupermacht“ zu entwickeln. PETRA DOLATA-KREUTZKAMP (London) wandte sich der Bedeutung des Konfliktes um die Besitzverhältnisse in der Arktis für das kanadische Selbstverständnis zu. Ausgehend von der Überlegung, dass der kanadische Nationalismus sowohl postmoderne (Multikulturalismus, Multilateralismus) als auch moderne (Patriotismus, Unilateralismus) Komponenten aufweist, wurde der Stellenwert der Arktis für die kanadische Identität entwickelt. Im kanadischen politischen Diskurs wird die Arktis als mythischer Raum, als integraler Bestandteil der kanadischen Nation konstruiert, dessen Bedeutung nicht allein abhängig vom geostrategischen Nutzen ist.

Die Wandelbarkeit nationaler Mythen wurde anschließend von JAN ERIK SCHULTE (Bochum) in seinem Beitrag zur kanadischen Militärtradition aufgezeigt. War nach dem Ersten Weltkrieg noch von einer „Geburt der kanadischen Nation“ auf den Schlachtfeldern Europas die Rede, kam es spätestens in den 1970er-Jahren zu einer Umdeutung militärischer Gewaltanwendung. Unter dem Eindruck kanadischer Beteiligungen an UN-Blauhelmeinsätzen entwickelte sich ein Peacekeeping-Mythos, der die Rolle Kanadas in der Weltpolitik bis heute auch in Abgrenzung zu den USA begreift: US-amerikanischem Unilateralismus und kriegerischem Vorgehen wurden Multilateralismus und Friedensliebe Kanadas gegenübergestellt. FRAUKE BRAMMER (Berlin) stellte das Thema der Militärtradition auf eine international vergleichende Ebene. In ihrem Forschungsprojekt geht es um einen kulturwissenschaftlich angelegten Verflechtungsvergleich der deutschen und kanadischen Streitkräfte, in dem die Zusammenarbeit beider Länder in den Kommandostrukturen der NATO als Fluchtpunkt gewählt wird. Ein Aspekt der Verflechtung stellt dabei die Rückwirkung militärischer Interaktion auf die Heimatländer dar, etwa wenn die Stationierung kanadischer Soldaten in der Bundesrepublik zu veränderten Konstruktionsweisen von Kasernen in Kanada führte.

Auf Grundlage der vorgestellten Arbeiten wurden in der zusammenfassenden Diskussionsrunde die Chancen und Perspektiven der Kanadaforschung in Deutschland erörtert. Hier wurde die Möglichkeit betont, dass am Beispiel Kanadas die Überholtheit der ursprünglich im 19. Jahrhundert entwickelten Konzepte der Staatlichkeitsentwicklung besonders gut nachvollzogen werden kann. Aufgrund der spezifischen Kolonisationsgeschichte des Landes waren der vielfach für Europa postulierte Gleichschritt von Staatlichkeit und Nationalstaatsentwicklung in Kanada nie ein überzeugendes Konzept.
Eine weitere Perspektive für künftige Forschungsvorhaben ergibt sich aus der Integration von kanadischer und US-Amerikanischer Historiographie zu einer nordamerikanischen Regionalgeschichte. Aktuelle Fragestellungen transnationaler Geschichtsschreibung lassen sich gerade mit Verweis darauf verfolgen, dass Menschen und historische Entwicklungen oftmals nicht am 49. Breitengrad halt machten. Auch eine stärkere Beschäftigung mit der Zeit vor 1945 kann hier zu neuen Ergebnissen führen, da dieser Zeitraum in der deutschen Kanadaforschung bislang unterdurchschnittlich repräsentiert ist.

Im Hinblick auf die weitere Verankerung der Kanadastudien in der deutschen Universitätslandschaft wurde abschließend angeregt verstärkt Projekte in Forschung und Lehre mit Schwerpunkt Kanada zu initiieren. Gerade durch eine stärkere fächerübergreifende Vernetzung von Vorhaben können die Nordamerikastudien in Deutschland zusätzlich an Bandbreite und Profil gewinnen. In diesem Sinne wurde eine mögliche Fortführung derartiger interdisziplinärer Kanada-Tagungen sehr begrüßt.

Konferenzübersicht:

Begrüßung – Michael Wala

Sektion I

Wolfgang Helbich: “Zwei Versionen des Bikulturalismus: ‘les nations fondatrices’ und ‘sleeping with an elephant’”

Sektion II

Dirk Hoerder: “Studies of Aspects of Canada: Multiculturalism Under Attack, Gender-debates, and Absence of Class”

Udo Sautter: “Gedanken zu ‘Doing Canadian History’”

Sektion III

Martin Thunert: “Politikberatung in Kanada: Anders als in den USA?”

Petra Dolata-Kreutzkamp: "Nationalismen in der Arktis und in Québec und die Frage der kanadischen Identität in Innen- und Außenpolitik"

Sektion IV

Jan Erik Schulte: “Die vielen Gesichter des nationalen Mythos: Kriegseinsätze und UN-Friedensmissionen im kanadischen Selbstverständnis”

Frauke Brammer: “Good Guys, Bad Guys, NATO Allies? Das Militär in Deutschland und in Kanada, 1945-1990”

Abschlussdiskussion


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Deutsch
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